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Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)

stellungnahmen → Zu: «Voll geil»
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Der Bund für vereinfachte rechtschreibung nimmt stellung

Spontane ordnungsbildung

Zu Konrad Hummler, «Voll geil», Neue Zürcher Zeitung, 17. 11. 2010

Nachweis unter presse und internet

Konrad Hummlers liberalismus ist bekanntlich ziemlich radikal und mir durchaus sympatisch. Aber bei der rechtschreibung vergisst er anscheinend seine grundsätze und redet den reaktionären das wort – wie leider auch andere liberale persönlichkeiten. Wenigstens lädt er uns zum «Weiterdenken» ein. Dazu gehören folgende zwei überlegungen:

1. Ich bin auch der meinung, dass die sprache und damit die rechtschreibung allen gehören und niemand ein vorrecht hat. Wenn aber niemand ein vorrecht hat, hat auch niemand weniger rechte. Zu allen gehören auch die schule und die politiker. Wie kann sich ein liberaler mensch darüber aufregen, dass sich jemand an etwas, was allen gehört, «vergreift» und ein «unsägliches Durcheinander» anrichtet? «Ungefragt, selbsternannt»! Eben! Wer hätte denn fragen und ernennen sollen? Der staat? Mir schwant schlimmes: Hummler glaubt in dieser angelegenheit gar nicht an eine «spontane Ordnungsbildung», sondern an eine allmacht unseres staats. Ich kann ihn aber trösten: Wenn sich dieser gesellschaftliche bereich «der Planung, Kontrolle und Korrektur inhärent entzieht», kann gar nichts passieren! (Es braucht nicht einmal einen laienverein mit dem anmassenden titel «Schweizer Orthographische Konferenz».)

2. Gemäss Hummler ging man vor bald 15 jahren daran, «behördlich das sogenannt Richtige zu dekretieren» und «staatlichen Zwang» auf die rechtschreibung auszudehnen. Also: Seit 1996 sagt der staat dem schüler: «Du musst ‹Gämse› schreiben.» Vor 1996 war das anders. Aber wie? Wenn nicht «behördlich das sogenannt Richtige dekretiert» und kein «staatlicher Zwang» ausgeübt worden wäre, hätte der staat dem schüler etwas in der art gesagt: «Du darfst Gemse oder Gämse oder gemse oder gämse schreiben.» Das hat er aber nicht. Die erziehungsdirektoren haben 1892 «staatlichen Zwang» auf die rechtschreibung ausgedehnt und dekretiert: «Du musst nach Duden schreiben, und dort steht ‹Gemse›.» (Sie hätten auch gemäss Grimm dekretieren können: «Du musst ‹gemse› schreiben.») 1996 dekretierten sie: «Du musst immer noch nach Duden schreiben, und dort steht ‹Gämse›.» Der zwang ist derselbe, und Hummler kommt mit seiner aufregung über den «staatlichen Zwang» über hundert jahre zu spät. Aber ich gebe zu: Die wahrheit kommt nie zu spät. Gerne wird der Bund für vereinfachte rechtschreibung sich auf Konrad Hummler berufen und alle, denen die neuregelung zu wenig weit gegangen ist, und die schüler daran erinnern, dass es bereiche der menschlichen interaktion gibt, die besser der spontanen ordnungsbildung überlassen werden.

Rolf Landolt, vorsitzer des Bundes für vereinfachte rechtschreibung (Zürich)